5. Daddys Girl

Es reicht für Zahlenschlachten. Für Relationen. Für Zusammenhänge, wo sie hergestellt werden können. Oft genug nur Vermutungen, wenig handfeste Beweise, verdeckte Schuldzuweisungen. Mal verpackt in wissenschaftliche Akribie und Gratwanderei, mal in politische Agenden.

Der Blick hinter die Datenreihen offenbart Unsicherheit, lässt einen Kit der Angst zwischen den Generationen erkennen. Ja, ein etwas höheres Vorkommen von Krankheiten wie rheumatoide Arthritis oder autoimmune Schilddrüsenerkrankungen, dazu Asthma oder Ekzeme lasse sich in der Gemeinschaft der Atomtestveteranen feststellen. „Aber nicht im Übermaß“, so Dr. Becky Alexis-Martin, Co-Autorin von „Nuclear Families: A Social Study of British Nuclear Test Veteran Community Families“.

Auch von Geburtsfehlern wurde berichtet. Die große Mehrheit der Leiden sei aber psychosomatisch, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen: „Die schwerste Last für die meisten Nachkommen ist die schiere Angst, irgendwann das Erbe einer strahlenbedingten Krankheit antreten zu müssen.“

Das große Leiden ist Angst, ist Atomschmerz. Shelly Grigg ist genau das. Shelly Grigg, das ist der Schmerz zwischen dem 5. Lenden- und dem 1. Steißbeinwirbel. Shelly ist Diabetes, ist Morbus Biermer, ist das Problem mit der Schilddrüse, ist rheumatische Arthritis in ihren Kinderjahren.

Shelly ist eine seltene Art der Fettsucht, ist die Adipositas dolorosa oder Dercumsche Krankheit, die 2003 bei ihr diagnostiziert wird. Fest, körnig und knotig fühlt sich das Fett an, „wie ein Bündel von Würmern“, beschreibt es der Namensgeber der Krankheit, der US-amerikanische Neurologe Francis Xavier Dercum. Die Vorderarme, die Unterschenkel, die Hände und Füße, Hals und Gesicht bleiben von den Fettansammlungen fast frei. Die Massen sammeln sich am Rumpf und an den Oberschenkeln.

Rund 20 Pillen muss Shelly jeden Tag schlucken, alle 10 Wochen wird ihr eine Thyroxin-Injektion intravenös verabreicht. Durch ihr 3-Zimmer-Küche-Bad-Heim in einer Reihenhaussiedlung in Hemlington nahe Middlesborough zieht der etwas strenge Geruch nach einem Labrador und zwei Katzen. Auf dem Boden vor dem Fernseher hockt in sich gefallen ein großer Plüschaffe, mit „Good Boy“ in Weiß bedruckt. Im schwarzen Bücherregal lehnt neben einer Handvoll Familienbildern auch die Phil-Collins-Biografie „Not Dead Yet“.

Shelly Grigg
Roy Grigg/Bruder Paul

Shelly ist das Morphium, von dem sie glaubt, dass es ihr bester Freund sei. Das klinge zwar furchtbar, sagt sie, sie wisse das schon auch, aber sie habe nun einmal Schmerzen, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. „Das Morphium stumpft zumindest die schlimmsten Spitzen ab.“

Shelly ist auch Daddy’s Girl und Daddy war Roy Grigg und Roy Grigg landet im Sommer 1959 auf Christmas Islands, ein Jahr nach den Grapple- Explosionen. 22 war er da.

Ein Ausputzer, der die Angst wegsäuft

Auch Roy war Ausputzer, sagt Shelly, hat aber nie eine Explosion miterlebt, trotzdem wünscht sie sich, er hätte ihr mehr darüber erzählt: Wie er den ganzen Müll auf der Insel wegräumte, den Sand von den Zelten und Autos fegte, im verseuchten Wasser schwamm, den verseuchten Fisch aß.

Nach seiner Zeit in der Navy macht Roy dicht oder gar nicht erst auf und fängt das Trinken an. Ein Alkoholiker, der es an schlechten Tagen nicht ins eigene Schlafzimmer schafft. Dann packt ihn seine Frau ins Bett der Tochter. An ganz schlechten Tagen ist er so voll, dass er es einnässt.

Aber für Shelly ist er auch einer, der nicht eines Morgens aufwacht und sich dazu entschließt, alkoholabhängig zu werden. „Du kommst zurück, mit all den Erinnerungen und Ängsten im Gepäck, mit der Unsicherheit, dass du vielleicht selbst jede Menge Strahlung abbekommen hast“, sagt sie. Unvorstellbar sei das, diese immerwährende Furcht vor Spätfolgen oder gar einem vorzeitigen Tod. Daddy hat die einfach weggesoffen.

Roy Grigg wird beides: krank und früh sterben. Als er am 31. Juli 2001, mit 64, dem Knochenkrebs erliegt, stirbt er jedoch nicht als Roy Grigg, er stirbt als Bruder Paul. Im August 1987 tritt Corporal Roy Grigg, Atomtestveteran, Alkoholiker, dem Franziskanerorden bei.

Warum? „Auf die Frage hat er nur geantwortet: ‚Weil ich den Ruf gehört habe’“, sagt Shelly Grigg.

Franz von Assisi, Ordensgründer, Bettelmönch, Schutzpatron der Tiere, der Natur, der Umwelt. Der, dem dieser Satz zugeschrieben wird: „Die ganze Dunkelheit der Welt kann das Licht einer einzelnen Kerze nicht löschen.“ Als Bruder Paul soll Dad wohl auch die Natur und die Menschen geliebt haben, die Wanderer und Obdachlosen, die er von der Straße holte, sie wusch, ihnen Essen und saubere Kleidung gab. Ja, er war sogar Mitglied der „British Fuchsia Society“, sagt Shelly, ein wenig stolz. Als wäre das ein kleines bisschen Heiligsprechung.

Corporal Roy Grigg/Bruder Paul, geläutert, gereinigt, zurückgezogen, trocken, Menschen- und Blumenfreund. Licht in der dunklen Welt der Shelly Grigg. „Als Papa starb, fühlte ich mich sehr allein“, sagt sie. Licht aus. Während sie von ihrem Vater erzählt wird sie immer mal wieder zu Weinen beginnen, vier oder fünf Mal. Über Papas Tod erzählt sie nüchtern weiter: „Ab dann fingen meine gesundheitlichen Probleme an und ich begann, Fragen zu stellen.“

Sie sucht und findet. Andere, die ähnliche Leiden haben, Gleichgesinnte, Gefühlserben. Für die, vor allem aber für sich selbst, gründet sie die Facebook-Gruppe „Fallout“. Sie schafft sich ihr Milieu, ihre Trauma-Community mit 800 Mitgliedern.

Sie gräbt und wühlt sich in ihren Stammbaum, bis ins Jahr 1705 zurück. Sie findet nichts. Natürlich nicht, denn was wäre das, wenn ihr zwischen Industrieller Revolution und viktorianischem Zeitalter plötzlich ein Vorfahre querkommt, eine Fettsucht vielleicht, ein genetischer Abweichler, der ihr damit ihren Atomschmerz streitig machte?

Ein kleines bisschen Heiligsprechung

Sie findet auch keine Wut auf ihren Vater. Nein, sagt sie, die Väter treffe keine Schuld, „keiner von denen hat sich freiwillig gemeldet“. Vielmehr seien sie gezielt ausgewählt worden: fast alles unverheiratete, kinderlose, junge Männer, die sich vor ihrer Abreise einem Bluttest unterziehen mussten. „Auch wenn das Verteidigungsministerium das heute bestreitet, die meisten waren fit und gesund und kehrten krank zurück.“ Sie hätten ihr Leben gegeben, sagt sie. Als wäre das noch ein kleines bisschen mehr Heiligsprechung.

Am 6. August 2001 wird Roy Grigg/Bruder Paul beerdigt. Während der Totenmesse klingen Glocken, sie erinnern an die, die auch auf Christmas Island bei der Entwarnung nach den Tests läuteten. Aber auch an die, die heute noch einmal im Jahr in Japan geschlagen werden, immer am 6. August, immer um 8 Uhr 16. Der Tag, an dem Roy Grigg/Bruder Paul begraben wird, ist “Hiroshima Day”.

Während der Messe sagt einer der anwesenden Ordensbrüder noch: „Two things were born in Shelly’s Dad, in that exploding light cloud burst“. Zwei Dinge wurden in Shelly’s Dad geboren, in dieser explodierenden Lichtwolke.

Wäre da mehr Leben in ihrem Leben, wenn in seinem weniger Bombe gewesen wäre? Vielleicht hätte sich Roy Grigg auch ohne Atombombe ins Koma gesoffen. Vielleicht hätte er sich auch scheiden lassen, wäre auch Ordensbruder geworden, wäre auch an Krebs erkrankt, vielleicht früher, vielleicht auch später. Vielleicht auch nichts von alledem.

Heute ist alles Bombe im Leben der Shelly Grigg. Sie ist zum Bersten voll damit, sie schwimmt im Schmerz. Vielleicht auch, weil der Müll, der Dreck, der Staub, den Roy Grigg auf der Insel wegfegt, sich schon über sein Atomkind gelegt hat, als das noch gar nicht geboren war. Vielleicht auch nicht.

„Ich hasse mich“, sagt Shelly Grigg heute. „Ich verachte meinen Körper“. Sie schämt sich für ihn. Für etwas, von dem die Ärzte sagen, er ähnelte mehr dem einer Achtzigjährigen statt einer Mittfünfzigerin. Und dass dieser Körper wohl in ein paar Jahren einen Rollstuhl brauche.

Vielleicht früher, vielleicht auch später. Vielleicht auch gar nicht.

Es ist diese Ungewissheit, die das Atomkind in sich trägt. Das Gefühl, dass die Dinge einfach nicht ganz richtig sind. Sicher ist nur, sagt Shelly, dass sie entschieden hat, dem Ganzen ein Ende zu setzen: Sie liebe Kinder, sagt sie, ach, wie fantastisch wäre das, könnte sie ihre Geschichte und Geschichten weitererzählen.

Da ist aber eben auch die Angst, mit den Geschichten „eine Art Gift“ weiterzugeben, sagt sie. „Also setze ich bei mir den Schlusspunkt für meine Familie: no kids, keine Kinder!“

Sie sei, sagt sie, das Ende ihrer Geschichte.

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