4. Schuld und Scham

Es gibt nicht viele Veteranen, die so offen, so ehrlich, so hart darüber reden wie Doug, glaubt Reverend Nicholas Frayling. „Auch, weil sie sich in einer Zwickmühle befinden: auf der einen Seite eine sorgsam gepflegte Navy-Nostalgie, auf der anderen ein tief empfundenes Scham- und Schuldgefühl“.

Frayling, Jahrgang 1944, ist 13 Jahre alt, als Douglas Herns erste Bombe explodiert. Bevor er zur Kirche kommt, macht er eine Ausbildung im Einzelhandel, wird dann Sozialarbeiter im geschlossenen Vollzug des Männergefängnisses Pentonville, nordöstlich von London. Heute verströmt er, hochgewachsen, das Haar gewissenhaft zurückpomadet, eine seines Amtes entsprechende Würde und Integrität.

Er serviert Zitronenkuchen und Tee mit Milch und sagt: „Seit mehr als 30 Jahren nehme ich an Beerdigungen von Veteranen teil. Ich besuche sie, wenn sie krank sind, ich spende ihren Angehörigen Trost. Ich versuche, ihnen das Gefühl der Schuld und der Scham zu nehmen. Das Gefühl, etwas von dem selbst erfahrenen Horror vererbt zu haben – an das Kind, das keine Kinder bekommen kann; an das Kind, das mit Fehlbildungen geboren ist, das blind ist oder taub.“

Die Wohnung des Reverends liegt an der South Parade im südenglischen Southsea, Stadtteil von Portsmouth, einer der wichtigsten militärischen Häfen Europas. 27 Kriegsschiffe der Royal Navy liegen hier. Von Fraylings Eigentumswohnung im fünften Stock reicht der Blick bis zur knapp zehn Kilometer Luftlinie entfernten Isle of Wight. An der Fensterfront hat der Reverend ein Fernrohr aus Messing postiert, durch das er ab und an den Tankern und Fähren folgt, die die Meerenge „The Solent“ passieren

Ein Scharnier zwischen Schuld und Wut

Dazu passt, dass Frayling Commander des britischen Ritterordens Order of Saint John ist. Er ist außerdem: Autor des Buches „Pardon and Peace: Making of the Peace Process in Ireland“. Ein Verfechter politischer Versöhnung und interreligiöser Beziehung. Er ist einer, der im Juli 2013 in der Kathedrale von Chichester leidenschaftlich zu „Homo-Ehe – Sakrament oder Skandal?“ spricht. Der für die Rechte Homosexueller eintritt und sich damit nicht nur den Segen der Church of England holt.

Frayling ist auch ein Scharnier zwischen Schuld und Wut, ist Überwinder einer Barriere zwischen den Generationen, die sich mal leise, mal lauter aufgebaut hat: Da ist die Verzweiflung des Vaters oder des Großvaters, das stetig glimmende, dann und wann auflodernde Martern, einen vielleicht durch Strahlung und Fallout einverleibten Gen-Defekt weitergegeben zu haben. „Natürlich weiß jeder Einzelne von ihnen, dass es nicht in seiner Hand lag und liegt“, sagt er, „doch trotz aller Vernunft quält sie eine unaufhörliche Schuld“.

Da ist auch eine gedämpfte, oft verdeckte Wut der Nachkommen auf ihre Väter und Großväter, die sie für ihr eigenes, vielleicht schwieriges, verkorkstes Leben gerne zur Verantwortung ziehen würden. „Die meisten Kinder oder Enkelkinder blenden die Wahrscheinlichkeit lieber aus, nach all den Jahrzehnten die Nachwirkungen der Tests am eigenen Leib erfahren und erdulden zu müssen“, sagt der Reverend. „Wer will schon immer und immer wieder an die eigene Sterblichkeit erinnert werden?“ Dann doch lieber schweigen und weit, weit von sich schieben, dass Daddy vor mehr als 60 Jahren Versuchskaninchen im Pazifik war.

Nicholas Frayling

Dass Daddy etwas abbekommt, war Kalkül. 12 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki explodiert Douglas Herns erste Bombe, „die tödlichen Auswirkungen der Strahlung waren lange bekannt“, sagt Frayling.

In der Tat heißt es in einem als geheim eingestuften Bericht des regierungsnahen Defence Research Policy Committee an die militärischen Stabschefs vom 20. Mai 1953: „Der Armee ist daran gelegen, die Auswirkungen verschiedenster Explosionsarten auf Mann und Material mit und ohne unterschiedliche Schutzvorrichtungen genauestens in Erfahrung zu bringen“. Und in einem vertraulichen Schreiben vom 20. September 1951 schreibt der damalige Konteradmiral Arthur David Torlesse: „Ich bin der festen Überzeugung, dass alle Regierungsbeamten einen Anspruch auf Entschädigung für im Dienst erlittene Schäden haben.“

Ein Echo, das durch die Jahre hallt

Torlesse bezieht sich dabei auf die ersten britischen „Hurricane“-Atomtests im Oktober 1952 nahe der westaustralischen Monte Bello Islands. Er fügt noch hinzu, dass nicht automatisch jede Krankheit entschädigt werden müsse, nur weil sie eventuell auf eine Teilnahme an den Tests zurückzuführen sei. Zugleich entlässt er aber die Regierung nicht aus ihrer Verantwortung: „Ich bin dennoch der Meinung, dass seitens der Ministerien eine akzeptable Vorgehensweise gefunden werden kann, um mögliche Gerichtsverfahren zu Gunsten eines Geschädigten zu entscheiden.“

Dabei denkt Torlesse wohl weniger an die Kinder oder gar Kindeskinder der Atomtestveteranen. Doch wenn er in dem Schreiben formuliert, dass die gesundheitlichen Folgen „lange hinausgezögert werden könnten“, dann schwingt darin ein Bewusstsein über die Ungleichzeitigkeit der Vorgänge mit: da sind die Explosionen in den 1950er und da ist ein zunächst kaum wahrnehmbares Echo, das in den Jahrzehnten darauf umso deutlicher widerhallen kann.

Ein Echo, das mit Studien zu den Spätfolgen der Veteranen mal mehr, mal weniger laut verstärkt wird. Aufwändig recherchierte Papiere, die je nach Couleur des Absenders und mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten die Verantwortung mal in die eine, mal in die andere Ecke pressen. Und sich damit doch nur neutralisieren: „Unter den Getesteten konnte im Allgemeinen eine höhere Lebenserwartung festgestellt werden als im Durchschnitt der britischen Gesamtbevölkerung“. Schreibt die britische Regierung im November 2018 und aktualisiert damit eine 1983 gestartete und vom Verteidigungsministerium bezahlte Studienreihe.

Grund dafür sei der „Healthy Worker-Effect“ oder auch „Healthy Soldier-Effect“: Erwerbstätige zeigten einen allgemein gesünderen Lebensstil, Soldaten im Besonderen könnten zudem eine bessere medizinische Versorgung nutzen. Für Kritiker ist der Effekt hingegen eine ganz besondere Form der Stichprobenverzerrung. Der Vergleich zwischen Soldaten, die per se schon einen gewissen Gesundheitszustand aufweisen müssten, um überhaupt rekrutiert zu werden, und der durchschnittlichen Gesamtbevölkerung, der kann nur hinken: hier eine „natürlich Berufsauslese“, dort ein gesamtgesellschaftliches Sammelsurium aus Alt und Jung, aus gesund und krank.

Andere bewerten die Rechnung des Verteidigungsministeriums grundsätzlich als viel zu optimistisch. Wissenschaftler um die Professorin Sue Rabbitt Roff von der Universität Dundee zum Beispiel. Roff untersuchte die Gesundheitsdaten von 2.500 Atomtestveteranen und fand heraus, dass ein Drittel von ihnen bereits im Alter zwischen 50 und 60 verstarb, davon wiederum zwei Drittel an Krebs.

Zudem konnte, so Roff, in einer gesondert untersuchten Stichprobe von rund eintausend Veteranen etwa jeder Siebte nach seiner Rückkehr von den Waffentests keine Kinder mehr zeugen. Und: „Unter den fast 5.000 Kindern und Enkelkindern dieser Gruppe gibt es allein 26 Fälle von Spina bifida – mehr als das Fünffache der im Vereinigten Königreich üblichen Rate an Lebendgeburten.“

Spina bifida, eine Fehlbildung der Wirbelsäule, oft auch des Rückenmarks, ein offener Rücken bei 0,52 Prozent der Nachkommen. Reicht das? Und wenn ja: wofür?

5. Daddys Girl

 

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