Atomschmerz

Ende der 1950er Jahre zündet Großbritannien neun Atombomben über dem Seegebiet vor Christmas Island – auch, um damit ihre Wirkung auf den Menschen zu testen. Die zu der Zeit auf der Pazifikinsel stationierten britischen Soldaten behaupten, bis heute unter den Spätfolgen zu leiden. Und ihr Leiden an ihre Kinder und Enkel vererbt zu haben.

 

 

 

 

 

 

CLIENT
Freelance / Krautreporter

ROLE
Editor / Photography

DATE
July 2020

1. Runterzählen

Bei seinem ersten Mal steht Douglas Hern noch mit dem Rücken zur Bombe. Er trägt einen dunkelblauen Overall, die helle Sturmhaube über den Kopf gezogen. Sein Hals, sein Nacken, seine Schultern sind bedeckt, die Augen, die Nasenwurzel, die Stirn ausgespart. Hände und Unterarme stecken bis zu den Ellenbogen in weißen, elastischen Stulpenhandschuhen.

Es ist Freitag, der 8. November 1957. Auf Christmas Island ist es 7 Uhr 46 in der Früh. Der Start in einen klammen Pazifikmorgen, 231 Kilometer nördlich des Äquators. Das ist da, wo die Sonne nicht sachte, sondern wie im Zeitraffer aufgeht.

Im Zwielicht, in dem kurzen Augenblick der Dämmerung, steht Douglas Hern, 21, Soldat Ihrer Majestät der Königin von England mit dem Rücken zum Meer. Und während aus den trichterförmigen Lautsprechern Marke Tannoy einer runterzählt, zählt Hern im Kopf mit:

„Zehn. Neun. Acht“.
Noch sieben Sekunden, dann explodiert seine erste Atombombe.

Zwischen Mai 1957 und dem September 1958 zündet das Vereinigte Königreich über dem Seegebiet vor Christmas Island, heute Kiritimati, neun Kernwaffen. Zwei schweben an Ballons hoch, die anderen werden aus Vaillant-Bombern in einer Flughöhe von rund zweieinhalb Kilometern ausgeklinkt. Alle neun sind ein lange geplantes, kalkuliertes Trial-And-Error an Mensch und Maschine, ein Einstimmen in den hastigen Takt des Kalten Krieges: da ist Korea, ist der 17. Juni in der DDR, die Suez-Krise, der Volksaufstand in Ungarn, der Sputnik-Schock. Überhaupt: der Russe und die Kommunisten hier, der Westen und die Imperialisten da. Da ist das Gleichgewicht des Schreckens.

Und mittendrin das Empire, im politischen wie wirtschaftlichen Nachkriegsabschwung. Ein Großbritannien zwischen den Blöcken, auf der Suche nach verlorener Großmacht und Balance, im Marschgepäck und auf den Lippen das alte Lied, aus dem der Nationalstolz trieft: „Rule, Britannia! Britannia rule the waves; Britons never will be slaves“. Ein Land in den 1950er Jahren, wie so viele ausgelaugt vom Krieg, das in der kleinen, weltweiten Atombombenliga auf Augenhöhe mitspielen will, das Stärke demonstrieren will.

Und irgendwo im Königreich Douglas Hern, gerade 16 Jahre alt, der Unterschriften fälscht, damit die Royal Navy ihn doch bitte endlich rekrutiert. Der beim Fälschen auffliegt, bis ihn seine Mutter endlich ziehen lässt. Wohl auch, weil sie glaubte, ein Störfeuer wie ihn damit zum Schweigen bringen zu können.

Einheiten aus Versuchskaninchen

Doug war auf der Suche nach Halt in dem großen Ganzen und im festen Glauben daran, englische Arbeiterklassetristesse gegen Kameradschaft, Disziplin, Abenteuer eintauschen zu können. Da wollte einer das große „Bund-Fürs-Leben-Rad“ drehen.

Er wird erstmal Feldkoch. Dann Atombombentestperson. Die Navy macht aus ihm ein „Guinea Pig“, ein Meerschwein. Ein Versuchskaninchen. Nutzvieh.

„Wir wurden zu Robotern“, sagt er, „zu Nummern“.

Man muss sich Douglas Hern als einen gebrochenen Menschen vorstellen. Ganz oft gebrochen, ganz hart gebrochen, mit viel Schmerz gebrochen. Man kann ganz nah an ihn heranrücken und ihn nach seiner Kindheit, seiner Jugend im England der Vierziger und Fünfziger fragen. Er wird das zulassen.

„Ich bin fast taub“, sagt er. „Sie müssen mir schon direkt ins Gesicht sprechen“, sagt er.

Dann nimmt er sich die Zeit, die er dafür braucht, und es werden Stunden sein. Er wird sich den lieben langen Tag nehmen, in der Küche, im Salon, im Garten, im Schuppen, im Wohnzimmer seines Hauses, in der Bell Lane 36, Moulton, Lincolnshire.

Unauffälliges, sauber aufgeräumtes England, akkurate Vorgärten. Bei den Herns streckt eine mannshohe, grün-gelbe Holzwindmühle ihre weißen Flügel Richtung Straße, im Vauxhall pendelt der Duftbaum „Strawberry“.

Doug war einer von rund 25.000. Das ist die mehr oder weniger offizielle Zahl, die das britische Verteidigungsministerium angibt: 25.000 Soldaten, die in den fünfziger und sechziger Jahren an den Versuchen teilnehmen mussten.

Douglas Logan Peter Hern, Atombombentestperson
Unauffälliges, aufgeräumtes England, akkurate Vorgärten

Douglas Hern wird seine Geschichten einfach wegerzählen, in monotonem Ton, mit leichtem Lispeln. Ihm fehlen eine Menge Zähne, die Reihen sind oben wie unten deutlich ausgedünnt. Er wird die Geschichten einfach dazustellen, zu all dem Kitsch in den ohnehin schon übervollen, überbordenden Räumen mit ihrem Exotik-Nippes, den Asia-Schwertern, den 13 Medaillen, den Bildern seiner Enkel in Uniform, der Miniatur-Haubitze.

Ein aus den Fugen gebombtes Leben

Er haut sie raus die Sätze, mitten in die Räume, in deren Luft ein sauber- süßes Gemisch aus Duftkerze und Waschpulver hängt. Links neben dem Kamin prangt eine gerahmte Urkunde der „Royal Humane Society“; ein von der Schirmherrin Ihrer Majestät der Königin ausgestelltes Zeugnis darüber, dass Douglas Logan Peter Hern am 5. Juli 1978 einen älteren Mann vor dem Ertrinken im River Waham nahe Boston, Lincolnshire, bewahrte und ihm somit „ritterlich das Leben rettete“. Oh ja, hier hat alles seinen Stolz, seinen festen Platz. Mit Eifer und Waschmittel wird hier Ordnung in ein aus den Fugen gebombtes Leben gebracht. Er sagt, er habe keinerlei Kindheitserinnerungen, vielleicht die paar Tage, die er mit der Sonntagsschule am Meer verbracht hat, aber sonst war’s ein „pretty rough life at times“, ein ziemlich raues Leben damals. Dabei hat er unzählige Erinnerungen, ein unglaubliches Gedächtnis. Nur „Kindheit“, eine leichte, unbeschwerte Kindheit, die findet er darin nicht. Kindheit, das ist „The Blitz“. Das Ausbomben Londons durch die Nazis, der 7. September 1940, Doug ist knapp vier Jahre alt. Die zweite Angriffswelle trifft sein Haus, seine Straße, die Gießereien und Raffinerien auf der Isle of Dogs. Brennende Chemikalien und brennende Farben treiben später auf der Themse. Die lodernden Flammenflecken auf dem breiten Strom wabern mit den Gezeiten mal aufwärts Richtung Stadt, dann wieder raus Richtung Themsemündung. „Uns blieb keine Zeit, erwachsen zu werden“, sagt Doug. Als er zehn ist, stirbt der Vater an Krebs. Der Sohn rebelliert, die Mutter kapituliert. Sie sucht und findet die Härte und Hilfe der Kirche. Kindheit, das ist der Kirchenälteste, der sich ihm annimmt, ihn verprügelt, ihn regelrecht vermöbelt. Ein Zehnjähriger, dem der Leibhaftige rausgedroschen werden soll: „Er dachte wohl, ich sei besessen“. Dougs Kindheit, an die er sich nicht erinnert, ist auch die Erinnerung an das Schütteln, das noch während des Krieges beginnt. Ein lautes Knallen, ein Sprengen, eine Explosion, dann beginnt sein Zittern, das unkontrollierte. Doug, der Kriegszitterer, der unter Tischen Schutz sucht, sobald es richtig kracht. Das will nicht passen zu diesem heute großen, massigen Mann mit dem Musketierbart, der als Royal-Navy-Koch im Pazifik fünf Mal sieht, hört, fühlt, wie Kettenreaktion zu Feuerball zu Druckwelle zu Pilzwolke zu Fallout wird.

 ⟶ 2. Zündung

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