3. Feuer und Fisch

Im Garten pumpt eine Pumpe 35 Fischen den Sauerstoff zu

Ab sofort zählen die Lautsprecher wieder hoch, von Eins bis Zehn. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Aus den Tannoys bellt es: Aufstehen, umdrehen! Was er dann sieht ist nicht das, was er erwartet: Ein Wolkenkreis, darum bemüht, ein Ball zu werden.

Eine Blase, die sich weiter und weiter ausdehnt. Doug schaut direkt in sie hinein, sieht der Blase beim Wachsen zu, sieht, wie sie ihre Farben ändert, von Gelb zu Grün, von Grün zu Schwarz. „Und Du fragst dich, ob das irgendwann ein Ende hat oder ob es über dich hinauswächst“. Es wächst ihnen über den Kopf, mit einer Sprengkraft von 1,8 Megatonnen, 138-mal Hiroshima.

Über ihnen das Blau des Himmels, in das sich innerhalb von Sekunden eine Wolkenqualle ohne Tentakel formt. Eine, die einen dumpfen, hohlen Schlag von sich gibt. „Kein Knallen, eher ein Rollen, ein Pressen, ein Stoßen“, sagt Doug. Dann die Druckwelle, als stündest Du bei der rasenden Durchfahrt eines Hochgeschwindigkeitszuges direkt an der Bahnsteigkante.

Aber keine Angst, dir passiert schon nichts. Haben sie ja gesagt. Auch dann nicht, wenn du nach der Explosion die toten Fische aus dem seichten Wasser zusammenklauben wirst. „Noch zehn Tage später spülte die Flut jede Menge Getier Richtung Land. Bis zu den Knien standen wir inmitten der Kadaver, brachten sie ans Ufer, luden sie auf Transporter, die sie dann zum Verbrennen wegfuhren“.

Nicht alle werden verbrannt. Du bist der, der das ganze Zeug nach der Detonation wegschafft. Und weil du Koch der Kriegsmarine bist, wirst du auch ein paar der Fische zubereiten und servieren lassen: „Sogar einen kleinen Fish-And-Chips-Laden hatten wir am Strand“, sagst du im verklärten Rückblick, fast ein bisschen stolz. Dich kümmert es nicht weiter, ob die schwarzgoldene Pilotmakrele, der blaue Marin, der Wahoo, der Thunfisch oder Oktopus verseucht sind oder strahlen.

 

Vögel, die vom Himmel fallen

Douglas Hern, leicht verschmierte Brillengläser, springt jetzt in Gedanken von Bombe zu Fisch und zurück. Während des Erzählens schlägt sein linker Fuß mechanisch gegen das Stuhlbein seines Gegenübers. An der Kühlschranktür seines Hauses in Moulton hängt der Zettel mit Terminen für die nächste Blutuntersuchung, im Hintergrund läuft das Waschmaschinenwasser ab. Im Gartenteich pumpt eine Pumpe gurgelnd 35 Fischen Sauerstoff zu. Manchen hat seine zweite Frau Sandie Namen gegeben, sagt er. Einer heißt Sullivan, einer Henry. „Da sind mir während der großen Hitze im vergangenen Jahr glatt zehn von den Viechern weggestorben.“ Das habe ihn fast 1000 Pfund gekostet, sagt er.

Fünf Atombomben werden vor seinen Augen explodieren. Bombe Nummer 2, Grapple Y, war die Schlimmste, sagt er. Drei Megatonnen Sprengkraft, 230-mal Hiroshima, bis heute die größte britische Atomwaffe, die je getestet wurde. Er darf sich nicht hinhocken, nicht hinkauern, so wie beim ersten Mal. Er steht ihr einfach nur gegenüber.

„Ohne Schutzkleidung, kein Overall, keine Sturmhaube, nur ein leichtes blaues T-Shirt, dunkle Hose, Boots, Marine-Kappe. Um fünf nach Neun zündete die Bombe und fast im selben Augenblick kochte eine unerträgliche Hitze alles Leben aus mir heraus. Ich fiel auf die Knie, die Hände auf die Augen gepresst, und sah wie bei der November-Bombe dasselbe rosa Röntgenbild meiner Knochen und Venen. Waren wir bei der ersten Explosion noch leise, fast stumm, so entfuhr mir und den anderen jetzt ein Grunzen, ein Stöhnen, das sich mit dem unbeschreiblichen und ewig anhaltenden Donnerschlag der Bombe mischte.“

Nach Grapple Y muss Douglas Hern das Uferwasser wochenlang von Fischteilen und -kadavern säubern. Zum Ende der ersten Woche mischen sich immer häufiger verendete Vögel unter den Fisch. Erblindete Vögel, orientierungslos verendet, die Augen ausgebrannt. „Die müssen vor Erschöpfung vom Himmel gefallen sein“, sagt er.

Jahrelang habe er an nichts anderes denken können, haben ihn tags wie nachts Albträume heimgesucht. Die bleiben bis heute, sagt er. Träume, die sich mal mit mehr, mal mit weniger Wucht in seinen Alltag spülen. Wovon sie erzählen? „Von Explosionen. Von Detonationen. Und dass ich ständig vor ihnen davonlaufe.“

Das Wasser, die Hitze, der Tod – das ist das Dreieck, in dem Douglas Logan Peter Hern sein Leben lebt, das sind die Koordinaten, an denen er sich ausrichtet, einpendelt und ausschlägt. Er sagt dann doch tatsächlich, dass er Glück gehabt habe. Weil er kein großes Leiden davongetragen hat von all dem, was er auf Christmas Island gesehen, getan, und von dort mitgenommen hat. Und weiß noch im Moment, in dem er das ausspricht, dass es falsch ist, was er da sagt. „Meine direkten Nachkommen, meine Blutlinie,“ – er sagt wirklich Blutlinie, einen Begriff aus der Tierzucht – „die leidet bis heute darunter.“ Dann berichtet er von der Beerdigung seiner Tochter Gill. Gill war der 1963 geborene Mittelpunkt in seinem Wasser-Hitze-Tod-Dreieck, der Schwerpunkt. Oder ist es noch. Gill ist die Tochter, die 1977 stirbt. Als Doug, Jahre nachdem er die Kriegsmarine verlassen hatte, die Schiffe wohlhabender Eigner von Hafen zu Hafen an der englischen Südostküste steuerte, war Gill immer dabei. „Es geschah, was geschehen sollte“, sagt Doug zu ihrem Tod. „Sie starb in meinen Armen.“ Woran? „Am Cushing Syndrom.“ Gills Körper produzierte zuviel Cortisol, oftmals ausgelöst durch einen Tumor in der Hirnanhangsdrüse. Den sieht man nicht, dafür die Gewichtszunahme, die Hamsterbäckchen, das Vollmondgesicht, dazu die Körperhaare, die ungewöhnlich stark wachsen. Gill entwickelt einen „Stiernacken“,, zwischen ihren Schultern sammelt sich das Fett. „Auf ihrem Rücken wuchs ihr ein Buckel, der mit Haaren bedeckt war. Als sie 11 war mussten wir sie zwei Mal am Tag rasieren. Sie war ein Mädchen, das im Zeitraffer zur Greisin alterte. “ Er streute ihre Asche über die Reling einer geliehenen Yacht ins Meer.

Jeder Bruch eine Kerbe, jede Kerbe ein Schmerz

Doug erinnert sich. An jede Kleinigkeit, an winzige Details. An Nächte, die er auf dem Boden liegend vor Krankenhausbetten verbringt. An jede Fotografie, die die Ärzte von seiner Tochter während ihrer Behandlungen machen. An Gill, wie sie ein allerletztes Mal kollabiert. Im Auto, eine Dreizehnjährige, die sich hinten im Fußraum der Rücksitzbank mit Krämpfen windet, während er lichthupend gegen den Autostrom Richtung Notaufnahme rast. Er hat ein untrügliches Gedächtnis, regelmäßig trainiert im fortwährenden Durchdenken und Vor-Augen-führen der Wege, der Momente, der Brüche. Jeder Bruch eine Kerbe, jede Kerbe ein Schmerz, da bleibt wenig Raum für anderes. Doug sieht so aus, als würde ihm ununterbrochen irgendwas weh tun. Er müsste laut darüber schreien, meint man. Wieder und wieder. Doch dafür, dass Gills Tod das Schlimmste ist, was ihm passieren konnte, bleibt er seltsam stumm. Da zieht sich das Echo der Bombe quer durch die Generationen und er schluckt das einfach weg. Warum brüllt er es nicht raus? „Weil die Navy diesen einen, diesen menschlichen Wesenszug völlig zerstört hat: Ich zeige keine Emotionen, mein Gesicht sieht stets gleich aus. Und mir wird schlecht, wenn ich meine eigene Stimme höre. Weil sie so monoton klingt. Ich habe es so satt, mich zu hören“, sagt er. Du Roboter. Du Nummer! „Er weiß nicht, wie man liebt“, sagt seine zweite Frau Sandie. Hallen die Explosionen bis heute in ihm so stark nach, dass er in dem ganzen Lärm gar nicht anders kann, als der Bombe mit ohrenbetäubendem Schweigen sein Leben zu widmen?

4. Schuld und Scham

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